Die wichtigsten Aspekte
- Zeitnahe Daten zum Lohnwachstum sind seit jeher begrenzt verfügbar, insbesondere in Europa.
- Zwar beobachten die Zentralbanken die Lohnentwicklung auf Anzeichen, die sich auf die Inflationsentwicklung auswirken könnten – genaue Daten zum Lohnwachstum sind jedoch schwer zu finden.
- Das Indeed Hiring Lab hat einen neuen monatlichen Lohnmonitor entwickelt, der auf den Daten von Millionen Online-Stellenanzeigen auf Indeed in sechs Ländern der Eurozone sowie UK basiert.
- Das Wachstum der in der Eurozone gezahlten Löhne beschleunigte sich im Jahr 2022 und erreichte im Oktober 5,3 % gegenüber dem Vorjahr – mehr als das Dreifache der Wachstumsrate vor der Pandemie. Das Lohnwachstum in Deutschland betrug 7,1 %, in Großbritannien betrug es 6,2 %.
- Das Lohnwachstum ist zunehmend breit gefächert: In den meisten Berufsgruppen liegt das jährliche Wachstum der ausgewiesenen Löhne über 3 %.
- Diese Trends stimmen mit den Erwartungen der Zentralbanken überein, dass die Löhne in naher Zukunft mit Raten deutlich über dem historischen Niveau wachsen werden.
Die Zentralbanken sind besorgt, dass sich die derzeit hohen Inflationsraten in den Lohnforderungen der Arbeitnehmenden niederschlagen, Kosten und Preise in Zukunft in die Höhe treiben und die Rückkehr der Inflation zum festgelegten Ziel erschweren könnten. Damit rückt die Lohnentwicklung in den Mittelpunkt des Interesses. Die politischen Entscheidungsträger*innen beobachten die Inflationsentwicklung und befürchten eine Lohn-Preis-Spirale. Daher brauchen sie Informationen, wie schnell die Löhne steigen und wie verbreitet das hohe Lohnwachstum ist.
Zeitnahe, vorausschauende Indikatoren für das Lohnwachstum sind in Europa selten. Offizielle Lohnstatistiken werden oft mit einer langen Verzögerung veröffentlicht. Zusätzliche Informationsquellen wie der EZB-Indikator für Tariflohnsätze sind zwar nützlich, doch gibt es Bedenken hinsichtlich ihres Erfassungsbereichs und der Verzögerung, mit der sie auf Arbeitsmarktbedingungen reagieren.
Wir haben einen neuen Tracker für das Lohnwachstum entwickelt. Er basiert auf Löhnen und Gehältern, die in Stellenanzeigen auf Indeed in Großbritannien sowie in sechs Ländern der Eurozone (Frankreich, Deutschland, Irland, Italien, den Niederlanden und Spanien) veröffentlicht werden. Diese Länder machen zusammen 81 % der Beschäftigung in der Eurozone aus. Für den vorliegenden Artikel und den dazugehörigen Forschungsbericht haben wir Daten von 24 Millionen Stellenanzeigen verwendet, um das Wachstum der ausgeschriebenen Gehälter nach Land und Beruf von Januar 2019 bis Oktober 2022 zu ermitteln. Unsere Methode ist angelehnt an den US Wage Growth Tracker der Federal Reserve Bank of Atlanta: Wir messen das Lohnwachstum innerhalb eng definierter Berufskategorien und berechnen den Median. Das bedeutet, dass die Gesamttrends des Lohnwachstums nicht durch den Anstieg des Anteils bestimmter hoch- oder niedrigbezahlter Arbeitsplätze in einem gegebenen Zeitraum bestimmt werden.
Unser Lohnmonitor ist kurz nach Monatsende verfügbar und damit wesentlich aktueller als die bislang vorhandenen Quellen. Er ist auch zukunftsorientierter, weil er aussagt, wie viel die Arbeitgebenden für die Einstellung einer zusätzlichen Arbeitkraft zu zahlen bereit sind. Die Löhne von Neueinstellungen reagieren in der Regel stärker auf den Konjunkturzyklus als die Löhne aller Arbeitnehmenden. In diesem Sinne ist der Tracker auch ein Indikator dafür, wie angespannt der Arbeitsmarkt ist.
Bei neuartigen Daten wie diesen ist es wichtig zu prüfen, wie repräsentativ sie sind. Im Forschungsbericht vergleichen wir unsere Daten mit den offiziellen Lohnstatistiken und kommen dabei zu ermutigenden Ergebnissen. Die veröffentlichten Lohndaten schneiden sehr gut ab – sowohl in Bezug auf allgemeine Trends als auch auf die Abdeckung der Bevölkerung.
Das Lohnwachstum hat sich beschleunigt
Das Wachstum der in Stellenanzeigen veröffentlichten Löhne hat sich drastisch beschleunigt, seit sich die Wirtschaft von der Pandemie erholt hat. In der Eurozone hat sich die beschäftigungsgewichtete durchschnittliche Wachstumsrate in den sechs von uns analysierten Ländern von rund 2 % Ende 2021 auf über 4 % im Sommer 2022 mehr als verdoppelt. Im Oktober lag der Lohnzuwachs in unserem Tracker bei 5,3 %. Dies entspricht den Erwartungen der EZB, dass die Löhne aller Arbeitnehmenden in naher Zukunft mit Raten deutlich über dem historischen Niveau steigen werden.
In Großbritannien hat das Wachstum früher und stärker Fahrt aufgenommen. Dies ist sowohl auf die höhere Inflation als auch auf die Verknappung von Arbeitskräften zurückzuführen. Das in unserem Tracker ausgewiesene Lohnwachstum verdoppelte sich von rund 3 % Mitte 2021 auf 6,5 % im Juni 2022, bevor es bis Oktober wieder leicht auf 6,2 % zurückging.
In den einzelnen Ländern der Eurozone sind weitgehend ähnliche Trends zu beobachten. Zwar sind die Lohnwachstumsraten unterschiedlich, aber in allen Ländern sind sie in der ersten Jahreshälfte 2022 im Vergleich zu den Raten vor und während der Pandemie gestiegen. In Irland, Italien, den Niederlanden, Spanien und Frankreich gab es im dritten Quartal zaghafte Anzeichen einer Stagnation, aber die Wachstumsraten blieben hoch. In Deutschland ist das Lohnwachstum weiter gestiegen und es gibt kaum Anzeichen für eine Verlangsamung.
Deutschland führt die Rangliste des Lohnwachstums in der Eurozone mit einer Wachstumsrate von 7,1 % in den drei Monaten bis Oktober an. Es folgen Frankreich (5,0 %), Irland (4,7 %), Italien (4,2 %), die Niederlande (4,0 %) und Spanien (3,5 %). Die hohe Wachstumsrate in Deutschland wird durch das rasche Tempo der Mindestlohnerhöhungen begünstigt und zieht den beschäftigungsgewichteten Durchschnitt der Eurozone nach oben. Die relativ niedrige Lohnzuwachsrate, die wir in Spanien beobachten, steht im Einklang mit den Daten zu den Tariflöhnen und könnte auf die im Vergleich zu anderen Ländern der Eurozone niedrige Zahl offener Stellen zurückzuführen sein.
Diese Wachstumsraten liegen zwar deutlich über dem Niveau von 2019, bleiben aber hinter der geschätzten Gesamtinflation zurück, die sich im Oktober zwischen 7,1 % in Frankreich und 16,8 % in den Niederlanden bewegte.
Hohes Lohnwachstum ist breit gefächert
Bis Oktober des Jahres 2022 verzeichneten sechs von zehn Berufskategorien in der Eurozone und mehr als acht von zehn in Großbritannien ein Wachstum von mehr als 3 %. Eine solche Wachstumsrate der Nominallöhne stimmt in etwa mit dem von der EZB und der Bank of England festgelegten Inflationsziel von 2 % überein, wenn man zusätzlich zu den Preissteigerungen ein Produktivitätswachstum von 1 % berücksichtigt. Der Anteil der Berufskategorien, die ein hohes Lohnwachstum verzeichnen, liegt deutlich über dem Durchschnitt für 2019 von drei bis fünf von zehn.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass das hohe Lohnwachstum breit über die meisten Segmente des Arbeitsmarktes gestreut ist und nicht von einer kleinen Anzahl von Berufskategorien mit einem angespannten Verhältnis zwischen Angebot und Nachfrage getragen wird. Eine solche Ausweitung des Lohndrucks nach oben wird den Zentralbanken Sorge bereiten, da dies ein Hinweis auf zunehmende „Zweitrundeneffekte“ von Energie- und Lebensmittelpreisschocks auf die Inflation sein könnte.
Anhand der detaillierten Daten zu den Stellenausschreibungen haben wir uns die wichtigsten Trends genauer angesehen, um herauszufinden, welche Berufskategorien den höchsten Lohnzuwachs verzeichnen, und dies mit der Lage vor der Pandemie verglichen. Sozialdienst & Sozialarbeit (8,7 %), Reinigungsdienste (8,1 %), Gastronomie sowie Lebensmittelherstellung und -verkauf (7,9 %) führten die Rangliste der Berufskategorien in der Eurozone nach der durchschnittlichen jährlichen Lohnzuwachsrate in den drei Monaten bis Oktober 2022 an. In Deutschland wurde das höchste Wachstum in den Bereichen Reinigungsdienste (12,5 %), Gastronomie sowie Lebensmittelherstellung und -verkauf (12,2 %) sowie Sozialdienst & Sozialarbeit (11,6 %) verzeichnet.
Die 2022 Top-Ten-Listen der Eurozone und Deutschlands ähneln sich. Acht Kategorien tauchen in beiden Ranglisten auf: Reinigungsdienste, Gastronomie sowie Lebensmittelherstellung und -verkauf, Sozialdienst & Sozialarbeit, Fahrdienste, Kundenservice, Einzelhandel, Lagerhaltung sowie Vertrieb.
Eine gewisse Ähnlichkeit besteht auch bei den Berufskategorien, die sowohl jetzt als auch vor der Pandemie das schnellste Wachstum bei ausgeschriebenen Löhnen verzeichnen. In allen untersuchten Ländern tauchen sechs Kategorien sowohl im Oktober 2022 als auch im Oktober 2019 in den jeweiligen Top-Ten-Listen auf, obwohl das Lohnwachstum in jeder dieser Kategorien im Jahr 2022 deutlich höher war.
Unser Forschungsbericht enthält zusätzliche Daten über die Entwicklung des Lohnwachstums der Berufskategorien in den einzelnen Ländern der Eurozone. Die Daten sind auch auf Github öffentlich verfügbar.
Wann wird das Lohnwachstum seinen Höhepunkt erreichen?
In der ersten Jahreshälfte 2022 beschleunigte sich das Lohnwachstum und erreichte je nach Land das Zwei- bis Dreifache der Wachstumsraten vor der Pandemie. Während das Lohnwachstum in allen Ländern unseres Datensatzes weiterhin hoch ist, scheint es in einigen Ländern auf diesem historisch hohen Niveau zu stagnieren. Dies deutet darauf hin, dass einige Arbeitgebende den derzeit angespannten Arbeitsmarkt gegen zunehmend unsichere und düstere Aussichten abwägen.
Diese Trends werden wir weiterhin auf mögliche Wendepunkte hin beobachten. Monatliche Updates und herunterladbare CSV-Dateien werden wir auf Github veröffentlichen und weitere Länder weltweit hinzufügen, sobald die Daten verfügbar sind.
Methodik
Um das Wachstum der ausgeschriebenen Löhne und Gehälter anhand der Stellenanzeigen zu berechnen, verfolgen wir einen ähnlichen Ansatz wie der US Wage Growth Tracker der Federal Reserve Bank of Atlanta, nur dass wir hier Berufe statt Einzelpersonen verfolgen. Für jedes Land und jeden Monat berechnen wir den Median der in Stellenanzeigen ausgeschriebenen Löhne für Tausende von Kombinationen aus Jobtiteln, Region und Lohnart (Stundenlohn, Monatslohn, Jahreslohn) sowie die Veränderung gegenüber den 12 Monaten zuvor. Auf Länderebene ist unsere Maßzahl für das Lohnwachstum der Median dieser Verteilung der Lohnzuwachsraten. Alternative Methoden wie die regressionsbasierten Ansätze von Marinescu & Wolthoff (2020) und Haefke et al. (2013) ergeben sehr ähnliche Lohnwachstumstrends.
Weitere Informationen über Daten und Methodik sowie zusätzliche länderspezifische Ergebnisse zum Lohnwachstum finden sich in unserem begleitenden Forschungsbericht ‘Wage growth in Europe: evidence from job ads’, der in der Reihe Economic Letter der Central Bank of Ireland veröffentlicht wurde.